Mechthild Overbeck-Neuhaus
Kummerstille
Die letzten schwer hängenden Regenwolken machen Platz für zarte grauweiße Wölkchen. Viel zu zart für meine stachelige Seele. Dramatisches Licht strömt durch die Fenster an den Ort, wo ich mich wiederfinde, aber nicht sein will. Sie war meine Freundin, eine, die mir gut tat. Ein ruhiger Mensch, eher jemand aus der zweiten Reihe, schon immer. Eine Lebenskennerin mit leisen Tönen. Eine, die etwas zu sagen hatte, anders als die Dauerredner mit festem Stand in weißen Sneakers und Anzugjacken. Tot, Schluss aus und vorbei. Nun sitze ich in der zweiten Reihe mit Blick auf ihren Bruder mit Familie, die Eltern und weitere Verwandte. Der Bruder, der in ihren Augen schon früh aufgehört hat zu leben, ohne zu sterben. Dort die Leute aus dem Laden, wo sie gelegentlich gearbeitet hatte. Eine dunkle Gesellschaft in Anthrazitgrau und Schwarz, mit ein paar übersehenen Fusseln, hier und da ein Haar, ein paar Hautschuppen. Unscheinbarer Verfall. Ich schiebe die dunkle Sonnenbrille wieder über den Nasenrücken vor die Augen.
Die Trauerrednerin geht zum Stehpult und bringt dabei die zahlreichen dicken weißen Kerzen zum Flackern, die rechts, links neben dem Foto platziert sind, auf dem ich sie gar nicht erkenne. Muss älter sein, das Foto. Aus den guten Tagen. Wahrscheinlich aus dem Familienalbum.
Von den flackernden Kerzen beleuchtet blicken ihre Augen auf die Trauergemeinde wie Holzknöpfe, passend zur grünen Wolljacke, die sie trägt . Schwülstige Reden hatte sie so sehr gehasst. Und nun hangelt sich die Trauerrednerin stichpunktartig an zufälligen Daten der Biografie entlang, leuchtet in die Vergangenheit wie mit einer Taschenlampe, deren Lichtkegel eine unerforschte Höhle abtastet. Oh My God, was soll das? Das ist nicht sie, niemals. Wir stürzen durch unser Leben, beobachten, fühlen, suchen und finden; unzählige Momente, die uns dann ausmachen, von denen niemand Genaues weiß oder wissen kann oder wissen will.
Sie hatte keine Angst vor dem Tod, eher vor dem, was gerade passiert. Der Verlust der Deutungshoheit über ihre Person. Die Trauerrednerin spricht nun von Liebe, vom großen Verlust für die Familie und erwähnt, dass ein Freigeist es sich und anderen nicht immer leicht mache.
Hör auf! Denke ich.
Eine ungeahnt starke Verärgerung nimmt plötzlich von mir Besitz und drückt sich raumschaffend gegen die Herzwände.
Mit viel Toleranz sei es der engsten Familie gelungen, die vorbestimmte Aufgabe im Familienunternehmen jemand anderem zu übertragen. Abgedriftet, den Kurs verloren. Dennoch, ein guter Mensch.
Ich bin derart aufgeregt, dass ich kaum noch zuhöre. So hör doch bitte auf!
In ihrer Lunge zwitscherten mehrere Jungvögel, wie sie mir die Geräusche beim Atmen erklärte, als sie in unserem letzten Gespräch eine schwerwiegende Bitte äußerte und mir ein Versprechen abnahm.
Ich taste vorsichtig in meiner Tasche nach dem Handy und der kleinen Lautsprecherbox, suche nach dem passenden Song und spiele ihn ab. Die Lautstärke überrascht mich selbst. Alle drehen sich entsetzt zu mir. Ich schreite mit der Box nach vorn, lege meinen Hut und die Box ab, drehe mich zur Trauergemeinde, greife das Revers meines langen Mantels und lasse ihn langsam von den Schultern gleiten. Das kurze Paillettenkleid genießt schimmernd den Auftritt im Kerzenschein. Aus der Box ertönt „Respect“ R E S P E C T buchstabiert Aretha Franklin. Überrascht und völlig sprachlos sitzen sie da, ich greife in eine riesige Tüte und beginne Konfetti zu streuen, über die Urne, den entsetzten Bruder, die Trauerrednerin, über alle in der ersten Reihe.
Beste Grüße von Flora! Rufe ich laut, Flora, die ihr nie kennenlernen wolltet! Die wunderbare Flora. Voller Herzensgüte war sie. Flora, die ihr beharrlich Florian genannt habt.
Dann ziehe ich Floras Lieblingskleid aus der Tasche und drapiere es liebevoll um die Urne, nehme Mantel, Tasche und Hut. Respect, ruft Aretha hinter mir her. Ich weine ihre stolzen Tränen, gehe Konfetti werfend durch den Mittelgang hinaus auf den Vorplatz, wo nun die Sonne die Stacheln meiner Seele abflämmt. Ich bin erfreut, dass die Presse an der Trauer dieser bekannten Familie gierig teilhaben will, schreite durch das schmiedeeiserne Tor. Dann bleibe ich abrupt stehen und schaue zurück. Eine grenzenlose Kummerstille erfasst mich. Ich sehe die Konfettispur, doch niemand folgt mir nach.





