Pfarrer Markus Trautmann

Opa Wegmann

Der Weg zur Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus und damit zum Aufbau einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung war buchstäblich bis zur letzten Stunde von fanatischem Widerstand begleitet – nicht zuletzt bei jungen Menschen. Der folgende Bericht erinnert daran.

Opa Wegmann kann es nicht begreifen

Gründonnerstag 1945

Während des deutschen Zusammenbruchs am Ende des Zweiten Weltkriegs war der 29. März 1945, der Gründonnerstag, jener Tag, an dem die alliierten Besatzer Dülmen erreichten. Eine Woche zuvor war am 21. und 22. März das alte Dülmen in Schutt und Asche versunken. Die meisten Bewohner hatten sich vorher rechtzeitig in den umliegenden Bauerschaften in Sicherheit gebracht und auf den Höfen ein notdürftiges Quartier gefunden.

Auch auf der kleinen Hofstelle Sträter am südlichen Rand der Bauerschaft Börnste hatte sich die Zahl der Bewohner in den letzten Tagen fast verdoppelt. Während sonst nur die Eheleute Sträter mit ihren fünf Kindern und einer Tante hier wohnten, lebten jetzt rd. 15 Personen auf engstem Raum. Den Evakuierten aus Dülmen konnten nur notdürftige Schlafstellen zugewiesen werden, teilweise auf der Tenne. Zu den unfreiwilligen Gästen gehörten auch die alten Eheleute Heinrich und Anna Wegmann von der Overbergstraße, deren Haus durch Brandbomben unbewohnbar geworden war. Aber das Schlimmste war überstanden. Jetzt harrte man, angespannt und erschöpft zugleich, der Dinge, die da kommen sollten. Im Laufe des Vormittags hatte man schon die ersten fremden Soldaten am Horizont vorbeieilen sehen, im Schutz der Wallhecken zogen sie von Merfeld kommend in Richtung Dülmen.

Mittags versammelte sich die Notgemeinschaft auf Sträters Hof um den großen Esstisch. In der Nervosität des Augenblicks war es allein die treue Wanduhr in ihrem dunklen Gehäuse, die unbeirrt ihren ruhigen Rhythmus fortsetzte. Bis zum heutigen Tag kündet sie, noch immer an derselben Stelle hängend, gleichmütig mit hellem Klang die halben und die vollen Stunden an. – Jetzt, zur Mittagszeit, gab es vermutlich Pfannkuchen; der damals achtjährige Bernhard Sträter kann sich nach rd. 80 Jahren nicht mehr genau erinnern. Aber unvergessen bleibt der Augenblick, als plötzlich die Haustür aufgerissen wird. Alles zuckt zusammen.

Der Anführer eines kleinen Trupps deutscher Soldaten betritt die Küche, sechs oder sieben seiner Kameraden stehen hinter ihm auf dem Hof. „Alles aufstehen und wegtreten!“, ruft der Soldat über den Tisch. Und nach hinten gewandt, zu den Soldaten: „Essen fassen! Aber ganz flott!“ Alle springen auf und machen den ungebetenen Eindringlingen Platz, die in die Küche stürmen. Ein Soldat bleibt vor der Tür und beobachtet nervös mit vorgehaltenem Gewehr, ob sich nicht etwa die Alliierten schon nähern. „Wir haben seit zwei Tagen nicht mehr richtig gegessen“, erklärt der Anführer den verwirrten Bauersleuten. „Wir müssen gleich sofort weiter.“ Ansonsten wird nicht gesprochen. Die deutschen Soldaten stehen um den Tisch herum und schlingen mit Heißhunger alles in sich hinein, was sie greifen können. Schnell wird noch der wachhabende Kamerad abgelöst, damit auch er kurz zum Essen kommen kann.

Ein bekanntes Gesicht

Plötzlich tritt Heinrich Wegmann hervor. Er ist zwar Bernhard Sträters Onkel, wird aber von allen nur „Opa Wegmann“ genannt – schließlich hat er seinen 60. Geburtstag schon hinter sich. Auch die beiden Söhne von Opa Wegmann sind zu den Soldaten eingezogen worden. Einer der beiden ist bereits „für Führer, Volk und Vaterland“ gefallen. Wo mag der andere jetzt gerade stecken? Ob für ihn der Krieg schon vorbei ist? Ob er überhaupt noch lebt? Vielleicht sind Opa Wegmann diese Gedanken durch den Kopf gegangen, als er die nervösen und mampfenden Soldaten vor sich sieht. Doch dann traut er seinen Augen nicht! Unter den Soldaten befindet sich auch ein Nachbarsjunge! In seiner schlotternden Uniform und unter dem Stahlhelm hat er den Achtzehnjährigen von der Overbergstraße zuerst gar nicht erkannt.

„Junge, was machst du denn hier?!“, ruft Opa Wegmann über den Tisch. Der Gemeinte blickt auf. „Mensch, Junge, der Krieg ist doch aus! Schmeiß deine Klamotten weg! Zieh dich um!“ Der Junge schaut sich unruhig in der Runde seiner Kameraden um, doch die sind mit ihrem Essen beschäftigt. „Der Tommy ist doch schon in Börnste!“, setzt Opa Wegmann noch mal nach. Er spricht jetzt etwas leiser. Keiner der anderen Soldaten nimmt Notiz von dem Zwischenfall, zumindest lässt sich niemand was anmerken. „In einer Stunde ist alles vorbei! Bleib hier!“ Opa Wegmann ist ganz aufgebracht. Vielleicht spüren alle, wie recht er hat – auch wenn er sich mit diesen Worten eigentlich um Kopf und Kragen redet. Aber alle scheinen wegzuhören. Außer Opa Wegmanns Nachbarsjunge.

Dem Angesprochenen ist die ganze Situation nur peinlich. Er hat einen roten Kopf bekommen, und plötzlich schreit er Opa Wegmann an: „Du feiger Hund!“ Er schluckt noch einen Bissen seines Essens hinunter. „Wir geben nicht auf! Das könnte euch so passen!“ Kurze Pause. Dann geht der Junge auf Opa Wegmann zu, steht jetzt ganz nah und bedrohlich vor ihm. Der hochgewachsene Opa Wegmann scheint langsam in sich zusammenzusinken. „Wir verteidigen die Heimat“, wird Opa Wegmann heruntergeputzt, „und anstatt uns zu danken, fällt uns die Heimat in den Rücken!“ – „Aber Junge ...“, versucht es Opa Wegmann noch einmal. „Dat kann ick nich begriepen!“

„Abmarsch!“, ruft der Anführer plötzlich. „Wir müssen weiter! Der Feind wird jeden Augenblick hier sein.“ Der kleine Trupp verlässt die Hofstelle Sträter.

Tragisches Ende

Noch bevor die Soldaten Dülmen erreichen, findet der fanatische Dülmener Junge von der Overbergstraße den Tod. Er ist einer von drei Wehrmachtsangehörigen, die an diesem Gründonnerstag rund um Dülmen noch ihr Leben lassen. Am Abend ist die Stadt von den Alliierten besetzt.

Die Dülmener Evakuierten, so auch Opa Wegmann und seine Frau, konnten irgendwann in die Stadt zurückkehren. Das ausgebrannte Haus an der Overbergstraße war bis zum Herbst 1945 wieder bewohnbar. Doch der sinnlose Tod des Jungen aus der Nachbarschaft im letzten Augenblick des Krieges blieb für die Eheleute Wegmann und auch für die anderen Nachbarn eine schmerzhafte Erinnerung. An den Namen des Jugendlichen kann sich Bernhard Sträter heute nicht mehr erinnern; es war in gewisser Hinsicht ein „unbekannter Soldat“. Und doch ist die Erinnerung an das tragische Geschick vom 29. März 1945 auch so ein anschauliches Mahnmal gegen Fanatismus und für den Frieden.

Auch Opa Wegmann hat die Geschichte später immer wieder erzählt. Er wurde sehr alt, noch mit 90 Jahren machte er von Dülmen aus seine Radtouren durch Börnste. Seine Erschütterung über das, was er hier zum Kriegsende erlebte, wollte auch im Abstand der Zeit nicht nachlassen: „Dat kann ick nich begriepen!“