Johanna Gremme

Demokratie und der "Dritte Ort"

Um meine Gedanken über „Demokratie“ loszuwerden, muss ich etwas weiter ausholen. Ich bin Dülmenerin und nach meinem Abitur am Clemens-Brentano-Gymnasium hat es mich zuerst ins Rheinland und dann nach Florenz verschlagen. Dort gibt es einen Ort, der für mich sehr wichtig ist und der mich zu den folgenden Überlegungen gebracht hat.

Es handelt sich um eine Bar, die über die Jahre mein „zweites Zuhause“ geworden ist, oder besser gesagt mein Wohnzimmer. Und nicht nur meins: Eigentlich ist niemand von den Stammgästen „nur“ für das gastronomische Angebot in die Bar gegangen, sondern für das ganze Drumherum.

Die Bar war für die meisten von uns ein „home away from home“, ein klassisches Merkmal sogenannter „Dritter Orte“.

Die Theorie des „Dritten Ortes“ stammt von Ray Oldenburg, der in den späten 80iger Jahren die zunehmende Isolierung innerhalb der amerikanischen Gesellschaft analysiert und den „Dritten Ort“ als Bezugspunkt außerhalb des eigenen Zuhauses und der Arbeit populär gemacht hat. Dabei ist die Erkenntnis, dass Menschen Räume brauchen, in denen sie aufeinander treffen können, natürlich nicht neu, sondern so alt wie die Menschheit.

Was in Griechenland die ἀγορά (Agora), im alten Rom das Forum und in Italien später dann ganz allgemein die Piazza war, sind nur einige Beispiele für Orte, an denen Menschen halb institutionell, halb privat, zusammen treffen.

„Dritte Orte“ sind nun Orte, die besonders durch einen niederschwelligen Charakter bestechen und in ihrer äußeren Erscheinung oft unscheinbar wirken. Wenn ich an meine Bar denke, stimmt das: Die Möbel waren einfach und haben mir dabei geholfen, meine ganz persönliche Theorie über die „Gemütlichkeit“ von Plastikstühlen zu entwickeln. Je schicker ein Ort ist, desto mehr läuft er Gefahr, kein Dritter Ort mehr zu sein. Denn die augenscheinliche Durchschnittlichkeit beschützt den Dritten Ort davor, dass zu viele Fremde ihn aufsuchen. „Fremde“ versteht Oldenburg in Abgrenzung zu Stammgästen. Denn ein Dritter Ort lebt von seinen regelmäßigen Besucherinnen und Besuchern. 

Wenn ich an die Bar denke, kann ich ganz genau aufzählen, wer die Stammgäste sind - die meisten kenne ich sogar beim Namen. 

Und obwohl ich anfangs eine augenscheinlich „Fremde“ war, hat mein häufiges Anwesendsein und meine Beteiligung an den belanglosen Alltagsgesprächen dazu beigetragen, dass ich schnell als Stammgast in diesen Ort integriert wurde.

Denn das ist ein weiteres Merkmal dieser „Dritten Orte“: die Gesprächigkeit. Dabei sind die Gespräche meist niederschwellig, universell und immer von einer großen Portion Humor durchzogen. Es werden viele Sprüche geklopft - wenn man das aushält und mitmacht, gehört man schnell dazu.

Das, was mich an der Bar immer am meisten fasziniert hat, war der bunte Mix an Menschen, die dort zusammen gekommen sind und sich in ihrem „normalen“ Leben so nie mittags unterhalten hätten. In meinem Gedicht „Il bar sotto casa“ heißt es „essen und trinken / müssen alle irgendwie“. Die Bar als „Dritter Ort“ hebt alle Hierarchien auf. An der Türschwelle gibt man für die Dauer einer Stunde seine berufliche Rolle auf. Es ist dann kurz (fast) egal, ob man als Anwalt, Putzkraft oder Goldschmied arbeitet, ob man studiert, hauptsächlich Care-Arbeit leistet oder arbeitssuchend ist. Mich hat das immer unglaublich fasziniert. In der Bar gehörten alle dazu. „Dritte Orte“ sind per definitionem inklusiv. Da braucht es auch kein „Come as you are“, denn das machen ganz selbstverständlich sowieso alle. 

„Third places, however, serve to expand possibilities, whereas formal associations tend to narrow and restrict them. Third places counter the tendency to be restrictive in the enjoyment of others by being open to all and by laying emphasis on qualities not confined to status distinctions current in the society. Within third places, the charm and flavor of one’s personality, irrespective of his or her station in life, is what counts.“ 

Kurzum: Wie du dich auf zwischenmenschlicher Ebene verhältst, zählt an einem Dritten Ort viel mehr als dein sozialer Status. Natürlich hat beides auch eine Wechselwirkung. Manchmal entstehen durch die Kontakte fruchtbare Arbeitsbeziehungen oder Mietverhältnisse oder es ist leichter, einen Handwerker oder Anwalt zu finden. Aber es muss nicht so sein. Im Vordergrund steht das fröhliche Miteinander, der „spielerische“ Umgang.

Ray Oldenburg sagt auch, dass man „Dritte Orte“ ungern verlässt und eine innere Notwendigkeit besteht, immer wieder an diesen fröhlichen Ort zurückzukehren.

An „Dritten Orten“ können wir Individuen sein, die sich unvoreingenommen auf andere einlassen. Wir können in Dialog treten und uns streiten und vertragen, weil der Ort den Rahmen hält.
Wir brauchen „Dritte Orte“ und es gibt zu wenig davon. Umso trauriger war ich, als „meine“ Bar Ende des letzten Jahres ihre Türen für immer geschlossen hat. Die Bar hatte eine unglaubliche Sozialfunktion und die brauchen wir in diesen zerrütteten Zeiten mehr denn je. 

Ursprünglich hatte ich meine Gedanken in Worte gefasst, um diesen für mich großen Verlust zu verarbeiten. Aber auch, weil wir Gegenentwürfe brauchen zu all den Orten, an denen es um Konsum und möglichst viel Profit geht. Es ist nicht leicht, solche Orte zu eröffnen, aber es gibt sie. 

Klassische Dritte Orte sind Bibliotheken, Spielplätze, Freibäder, Friseursalons, eine Imbissbude, ein Cafè. In Dülmen fällt mir da das EinsA ein, die Stadtbibliothek und sicherlich im weiteren Sinne auch Pfarr- und Vereinsheime. An Dritten Orten vermischen sich die viel zitierten „bubbles“ und genau diese Vermischung brauchen wir für unsere Demokratie. Wir müssen wieder aushalten lernen, dass jedes Individuum anders ist, dass Demokratie nicht vorrangig auf Einstimmigkeit, sondern auf Kompromissen fußt. Dass wir als unterschiedliche Personen mit unterschiedlichen Meinungen gemeinsam in einem Raum sein und Themen ausdiskutieren können – ohne Hass und Hetze, konstruktiv und streitbar.

Wenn wir alle uns mehr an Dritten Orten aufhalten würden, könnten wir viele Probleme rund um Inklusion, Migration oder Diskriminierung von Minderheiten anders lösen.
 
Der Kirchplatz, auf dem das „Digitale Bücherregal“ steht, ist auch ein „Dritter Ort“. Vielleicht schauen Sie sich nach der Lektüre einmal um, wer mit Ihnen auf dem Platz steht oder sitzt und beginnen ein Gespräch. Möglicherweise überlegen Sie gemeinsam, welche Dritten Orte Sie in Dülmen, im Münsterland, kennen. Sie dürfen notfalls auch übers Wetter reden – das wichtigste ist, überhaupt miteinander zu reden.