Jäger der fast vergessenen Namen

Dieses Foto zeigt Stadtarchivar Dr. Stefan Sudmann bei seinen Recherchen

Für seine Forschungen wertet Stefan Sudmann Ratsprotokolle, Zeitungsartikel und Akten aus. (Fotos: Stadt Dülmen / Siemes)

Behutsam gleitet der Finger über das vergilbte Papier. Zeile für Zeile, Name für Name: Heinrich Pierick, Bergmann. Franz Linden, Schriftsetzer. Louis Manns, Monteur. Über der Liste prangt der Stempel des Bürgermeister-Amtes Dülmen – mit Datum 17. Februar 1919. Das Schriftstück befindet sich seit Jahrzehnten gut verstaut im Stadtarchiv. Heute liegt es aufgeschlagen vor Dr. Stefan Sudmann. Der Stadtarchivar studiert die Namensliste, macht sich Notizen. „Es ist ein Puzzle. Jede Information ist ein Teil, das zu einem weiteren passt. Am Ende entsteht hoffentlich ein Bild“, sagt Sudmann und schlägt die Seite um. Weitere Namen, diesmal aus dem Jahr 1924. Ein Jahrhundert ist es her, da saßen diese Personen in der Dülmener Stadtverordnetenversammlung. Stefan Sudmann möchte ihre Geschichten erzählen. 

Seit drei Monaten puzzelt der Stadtarchivar bereits: Er blättert durch Ratsprotokolle, studiert alte Zeitungsartikel und wertet Akten aus anderen Archiven aus. Die Idee für die Recherche kam aus der Bürgerschaft und mündete in einem Beschluss des Kulturausschusses. Stefan Sudmann nimmt den Auftrag gerne an. „Die Lebensschicksale der Dülmener Stadtverordneten der Weimarer Republik waren bislang wissenschaftlich nicht aufgearbeitet. Wer waren diese Politiker? In welchen Vereinen waren sie tätig? Was wurde aus ihnen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten? Das sind spannende Fragen“, erzählt Sudmann und zieht eine weitere Akte aus einem Regal. 

Wer sein Büro im Keller der Hermann-Leeser-Schule betritt, fühlt sich sofort in der Zeit zurückversetzt. Alte Schriftstücke wechseln sich mit historischen Gegenständen ab, an den Wänden hängen schwarz-weiß Bilder und Zeichnungen. Eine Mischung aus Archiv und Museum. Auch der massive Holzschreibtisch dürfte bei Antiquariaten hoch im Kurs stehen. Einziger Störfaktor ist der Computer-Bilderschirm, auf dem Sudmann gerade erste Ergebnisse seiner Studien aufruft: Wilhelm Vornefeld sitzt von 1929 bis 1933 für die Zentrums-Partei im Stadtrat. Er ist erster Leiter des Dülmener Gymnasiums, wird unter der Herrschaft der Nationalsozialisten zwangsweise in den Ruhestand geschickt. Vornefeld lebt daraufhin zurückgezogen, tritt politisch zunächst nicht mehr in Erscheinung. Ab 1937 wird sein Sohn als NSDAP-Mitglied geführt.

Ein weiterer Name erscheint auf dem Bildschirm: Karl Meyer. Der Lederhändler sitzt ab 1919 für die SPD in der Dülmener Stadtverordnetenversammlung und im Kreistag. Meyer ist gewerkschaftlich aktiv und tritt 1933 auf eigenen Wunsch von seinem Amt im Stadtrat zurück. Er kommt damit einer Polizeiverfügung zuvor. Eine Parteichronik berichtet, dass er in den Folgejahren eine SPD-Fahne im Fußboden seiner Wohnung vor den Nazis versteckt. Diese verschonen ihn wohl aufgrund seines Alters. Nach Ende des Krieges ist er noch einmal politisch engagiert, verstirbt laut Sterberegister jedoch am 12. September 1950. 

Zwei Lebensgeschichten von mehr als 70, die Stefan Sudmann derzeit zusammenstellt. Für die weitere Arbeit hofft er auch auf Unterstützung aus der Bevölkerung. „Vielleicht haben Nachkommen der damaligen Stadtverordneten noch Unterlagen. Viele Politiker waren ja in Vereinen, in Verbänden oder in der Kirche aktiv – auch diese Informationen sind hilfreich, um ein Bild dieser Menschen zeichnen zu können.“ Darüber hinaus möchte Sudmann auch in anderen kommunalen Archiven und Beständen forschen. „Bislang basiert die Recherche vor allem auf Quellen des Stadtarchives und auf online einsehbaren Entnazifizierungsakten des NRW-Landesarchivs. Einige Stadtverordnete sind aber nach Münster oder ins Ruhrgebiet verzogen, sodass unser Datenbestand eher gering ist “, erklärt Sudmann.

Das Puzzle geht also weiter: Die Suche nach passenden Teilen würden viele wohl als Sisyphusarbeit bezeichnen. Nicht so Stefan Sudmann. Sein Forschergeist ist entfacht. 

Hintergrund: Präsentation der Zwischenergebnisse
Einen Zwischenstand präsentiert der Stadtarchivar in der kommenden Woche: Im Kulturausschuss stellt er erste Ergebnisse vor. Interessierte können an der öffentlichen Sitzung gerne teilnehmen. Sie beginnt am Dienstag, 20. Februar, um 17:15 Uhr im Sitzungsaal im einsA. Die Vorlage zur Sitzung enthält bereits eine Auflistung von Namen und recherchierten Daten: Sie kann über das Ratsinformationssystem auf der städtischen Homepage www.duelmen.de abgerufen werden. 

Dieses Foto zeigt Stadtarchivar Dr. Stefan Sudmann bei seinen Recherchen

Für seine Forschungen wertet Stefan Sudmann Ratsprotokolle, Zeitungsartikel und Akten aus. (Fotos: Stadt Dülmen / Siemes)

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